Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (1970-1983)
Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl ist das Hauptwerk des 1934 in Kammin (heute: Kamien Pomorski, Polen) geborenen Uwe Johnson. Die beinahe 2.000 Seiten des Romans erstrecken sich über vier Bände, die zwischen 1970 und 1983 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Die Protagonistin des Romans ist Gesine Cresspahl, eine Deutsche, die als Bankangestellte mit ihrer Tochter Marie im New York der 1960er Jahre lebt. Gesine erzählt Marie über ein Jahr hinweg Abend für Abend die Geschichte ihrer Mecklenburger Familie. Der Roman ist in 366 Tageseinträge gegliedert. Sie beginnen mit einem undatierten Vorspann und reichen dann vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968.
Beginnend mit der Geburt von Maries Großvater Heinrich Cressphal im Oktober 1888 ist die Familiengeschichte mit acht Jahrzehnten deutscher Zeitgeschichte verknüpft. Nach einem Aufenthalt im britischen Richmond zieht Cresspahl nach der Geburt seiner Tochter Gesine im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung zu Frau und Tochter ins mecklenburgische Jerichow. Nach dem Selbstmord seiner Frau Lisbeth in der Reichspogromnacht lebt er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges als alleinerziehender Vater mit seiner Tochter Gesine zusammen. Er arbeitet als Tischler auf dem Militärflughafen Marienfelde und verdeckt für den britischen Geheimdienst. Nach dem Ende des Krieges wird er von den britischen Besatzern als Bürgermeister von Jerichow eingesetzt, doch fällt das westliche Mecklenburg noch 1945 im Tausch für Berliner Sektoren an die sowjetischen Besatzer. Anfangs im Amt als Bürgermeister bestätigt, wird er im Oktober 1945 durch die Sowjets festgenommen und ins Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg gebracht, in dem er bis Mai 1948 festgehalten wird.
Während der Inhaftierung ihres Vaters lebt Gesine mit Frau Abs und deren Sohn Jakob zusammen, die als Ostflüchtlinge nach dem Krieg von Cresspahl aufgenommen wurden. Frau Abs wird für Gesine zur Ersatzmutter, Jakob anfänglich zum ‚Bruder‘, später zum Geliebten.
Gesine geht in der DDR zur Schule. Nach dem 17. Juni 1953 bleibt sie in Westberlin und arbeitet nach einer Ausbildung zur Dolmetscherin bei der NATO. Während eines heimlichen Besuchs in Jerichow zur Zeit des Ungarn-Aufstands wird Gesine von Jakob schwanger. (Dieser Besuch ist Gegenstand des Romans Mutmassungen über Jakob) Gesine macht eine Ausbildung im Bankwesen. 1961 zieht sie mit ihrer vierjährigen Tochter nach New York.
Die Familien- und Zeitgeschichte auf der Jerichow-Ebene ist erzählerisch mit historischen Ereignissen der 366 Tage in den Jahren 1967/68 verknüpft. Diese reichen vom Vietnamkrieg über die Ermordungen Martin Luther Kings und Robert Kennedys bis zum Eichmann-Prozess und dem Prager Frühling, der im letzten Tageskapitel, dem 20. August 1968, unmittelbar bevorsteht.
Gleich in doppeltem Sinne verwirklicht Johnson den Titel seines Romans: Jahrestage, das sind zum einen historisch bedeutsame Tage, zum anderen aber auch die Tage eines Jahres. Beide Bedeutungen werden durch die Verknüpfung des privaten Geschehens mit den historischen Ereignissen eingelöst. Der Roman bietet sowohl das Porträt einer Familie über drei Generationen als auch eine kritische Auseinandersetzung mit deutscher, europäischer und amerikanischer Geschichte. Das Panorama von Mecklenburg steht gleichberechtigt neben den Momentaufnahmen aus New York. Jahrestage ist Großstadt- und Heimatroman zugleich. Diese erzählerische Komplexität und die historische Spannweite machen die Jahrestage zu einem der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts.
Erhältlich sind die Jahrestage als vierbändige Taschenbuchausgabe im Schuber. Zusatzinformationen sowie ein umfangreiches Namens-, Orts- und Sachregister bieten der online verfügbare Jahrestage-Kommentar und Das kleine Adreßbuch für Jerichow und New York. Ebenfalls empfehlenswert ist die Verfilmung der Jahrestage von Margarethe von Trotta mit Suzanne von Borsody und Axel Milberg in den Hauptrollen.